Vorurteilsfrei?

Für viele bin ich wie ein Gezeichneter, aber du bist meine starke Zuflucht.

Psalm 71,7 

„Wir Menschen sehen, was vor Augen ist, und oft genug nehmen wir nicht einmal das richtig wahr. Äußerlichkeiten versperren uns den Blick für das Wesentliche.“

Der Dichter dieses Psalms beschreibt sich als Gezeichneten - für viele Menschen in seiner Umgebung sieht es so aus, als hätte er den Segen Gottes verloren. Was mögen das für Kennzeichen sein, an dem sie ihre Einschätzung festmachen? Gebrechlichkeit, Krankheit, Armut? Der Vers erinnert mich an die Darstellung des Gottesknechtes in Jesaja 53, wo es heißt: "Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht." Und: "Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt."


Die Vorstellung vom Messias schließt einen Mann aus, der nicht mit schöner und edler Gestalt gesegnet ist und nicht mit flammendem Schwert und mächtigem Arm die Feinde Israels vertreibt. Der leidende Gottesknecht entspricht nicht dem gängigen Bild des Retters, und so kann es geschehen, dass Gott selbst in die Welt kommt und von seinen Menschen nicht erkannt wird.


Wir Menschen sehen, was vor Augen ist, und oft genug nehmen wir nicht einmal das richtig wahr. Äußerlichkeiten versperren uns den Blick für das Wesentliche. Heute sprechen wir gewöhnlich nicht mehr davon, dass jemand gezeichnet sei, und wir wissen, dass Gebrechlichkeit und Krankheit nichts darüber aussagen, welchen Stand ein Mensch bei Gott hat.


Doch wir haben andere Kategorien, in die wir Menschen nach einem ersten Eindruck einsortieren, und es ist fraglich, ob wir jemandem damit gerecht werden. Groß, klein, dick, dünn, attraktiv, unscheinbar, gut gekleidet, altmodisch, das sind einige der Schubladen, in die wir unsere Mitmenschen gedanklich einordnen. Meist verbinden wir eine bestimmte Wertung damit und legen jemanden sehr schnell auf ein Bild fest, das wir uns auf diese Weise von ihm machen.


Wenn wir von Vorurteilen sprechen, haben wir in der Regel politische Korrektheit im Hinterkopf. Wir halten uns für modern und aufgeklärt, weil wir nicht mehr glauben, Andersfarbige wären minderwertig oder Ausländer besäßen weniger Intelligenz. Und dabei entgeht uns, dass unser Denken im privaten Umfeld von ganz anderen Vorurteilen geprägt ist.


Eines dieser Vorurteile betrifft die Kategorie "alt". Damit will ich gar nicht sagen, dass man alten Menschen alle möglichen schlechten Eigenschaften unterstellt (obwohl das unter Umständen auch sein kann, sie gelten gelegentlich als sturköpfig, grantig und fordernd), sondern dass man sie in der eigenen Wahrnehmung auf "alt" reduziert und damit abschreibt.


In einer Gesellschaft, die fast völlig auf die Dynamischen und Leistungsfähigen setzt und dabei so weit geht, dass ein Mann über 40 auf dem Arbeitsmarkt schon kaum mehr vermittelbar ist, haben Menschen, die nicht mehr aktiv am Erwerbsleben teilnehmen, keinen erkennbaren Wert. Sie fallen aus dem Raster der Nützlichkeit. Unter Umständen verlieren sie nicht nur Anerkennung und Respekt, sondern werden auch noch zum gesellschaftlichen Ballast, zum Kostenfaktor in der Gesundheitsversorgung und zur Bürde für die jüngere Generation.


So manches Mal, wenn ich in einem Bus oder Zug sitze, betrachte ich die Gesichter der älteren Mitreisenden und frage mich, was sie wohl in ihrem Leben alles gemeistert und gemacht haben. Der alte Mann, der ständig vor sich hin hustet und mit starrem Blick aus dem Fenster schaut, ist vielleicht einmal Professor an einer Universität gewesen. Die dicke Frau mit dem schlecht sitzenden Rock war vielleicht Stationsleiterin in einem großen Krankenhaus. Oder vielleicht hat sie neun Kinder groß gezogen. Und der unscheinbare Herr, dessen Haar schütter ist und dessen Hände zittern, kann einmal ein beliebter Laienprediger gewesen sein. Natürlich weiß ich das nicht. Aber solche Gedanken helfen mir, nicht nur das Alter zu sehen, die Gebrechlichkeit und Schwäche, sondern mir klarzumachen, dass diese Menschen ein ganzes Leben haben, auf das sie zurückschauen können. Sie sind nicht einfach nur alt, sondern sie haben eine persönliche Geschichte, sie haben Lebenserfahrung, sie haben Spuren hinterlassen. Dass ich diese Spuren nicht sehe, sollte mich nicht dazu verleiten, geringschätzig von ihnen zu denken.

„So manches Mal, wenn ich in einem Bus oder Zug sitze, betrachte ich die Gesichter der älteren Mitreisenden und frage mich, was sie wohl in ihrem Leben alles gemeistert und gemacht haben.“

Ich weiß nicht, wie es mir ergehen wird, wenn ich einmal alt bin. Werde ich spüren, dass Blicke über mich hinweg gleiten, weil ich keine Jugend und Schönheit mehr zu bieten habe? Werde ich erleben, dass meine Meinung nicht mehr gefragt ist, weil man mir nicht mehr zutraut, auf der Höhe der Zeit zu sein? Werde ich mit altersschwachen Ohren vernehmen, dass man mich "alte Oma" nennt? Werde ich mir vorkommen wie eine Gezeichnete, nur weil ich ein bestimmtes Alter erreicht habe?


Der Psalm 71 ist von einem alten Menschen geschrieben worden. "Auch wenn ich alt und grau bin, o Gott, verlass mich nicht", bittet der Dichter (Vers 18) und er nennt Gott seine starke Zuflucht. Ich bin froh, dass Gott andere Maßstäbe als wir Menschen hat und auch einen anderen Blick. Er legt mich nicht darauf fest, ob ich dick oder dünn, alt oder jung bin. In seinen Augen bleibe ich wertvoll, unabhängig davon, wie ich aussehe und was ich leisten kann. Ich möchte lernen, meine Mitmenschen mit diesem Blick zu sehen, und ich möchte darauf vertrauen, dass Gottes Augen mich auch dann noch liebevoll anschauen, wenn andere mich längst abgeschrieben haben.

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