Früher sangen wir in der Teeniegruppe: "Nimm ein das gute Land, das Gott dir gibt." Das Lied war von der Sprache her ziemlich Kanaanäisch, und was das gute Land sein sollte, war mir eigentlich nicht klar. Heute, gut 25 Jahre später, sehe ich sehr viel Weisheit im Bild vom Einnehmen des Landes. Das Leben ist ein ständiges Hineinschreiten in neue Situationen, durch die ich mich erweitere und an denen ich wachse. Und stärker als früher ist mir bewusst, dass ich mich Herausforderungen stellen oder vor ihnen zurückweichen kann. Der Fluchtimpuls, dieses innere Erschlaffen und Einknicken, statt eine Sache kraftvoll anzugehen, ist mein ständiger Begleiter. Immer wenn etwas ganz Neues ansteht, wenn mir Dinge abverlangt werden, die "nicht mein Fall" sind, sagt eine Stimme in mir: "Ich kann das nicht. Das soll jemand anderes machen.", und ich versuche, mich dieser Aufgabe zu entziehen. Gleichzeitig spüre ich, wie viel Feigheit und Bequemlichkeit hinter diesem Rückzug stecken, und wie ich mich selbst um eine wichtige Erfahrung bringe.
Seit meiner Kindheit kämpfe ich gegen meine Schüchternheit. Um genau zu sein, ich kämpfe eben nicht immer dagegen. Viele Jahre lang hab ich mich so versteckt und klein gemacht, wie ich mich innerlich fühlte. Ich traute mich selten, meinen Mund aufzumachen, war angepasst und unscheinbar. Ich hatte Angst, etwas nicht zu können, also versuchte ich es erst gar nicht. Ich war eine ständige Außenseiterin und verstand nicht warum.
Dann hatte ich einige Schlüsselerlebnisse, die einen richtigen Aha-Effekt bei mir ausgelöst haben.
Das eine war ein Jugendtag, bei dem wir für eine Übung in kleine Gruppen eingeteilt wurden. Plötzlich war ich unter lauter Fremden, die alle noch schüchterner zu sein schienen als ich. Da überwand ich mich und nahm das Gespräch in die Hand. Wir mussten uns am Ende gegenseitig auf einen Zettel schreiben, was wir uns beruflich für die anderen vorstellen konnten. Auf meinem Zettel stand unter anderem: Filmstar, Model, Schauspielerin. Es war unglaublich! Ich, die ewig graue Maus, das Mauerblümchen, das Nichts, war auf diese Weise wahrgenommen worden, einfach nur, weil ich aus mir herausgegangen war!
Das zweite war ein vierwöchiges Seminar, das ich zur beruflichen Weiterbildung besuchte. Wir waren dort eine Gruppe von vielleicht 15 jungen Leuten und wie üblich fühlte ich mich total übersehen und am Rand. Am letzten Abend gab es eine kleine Feier und ich gesellte mich zu den anderen. Wir gerieten ins Gespräch und plötzlich merkte ich, dass sich die Leute für mich interessierten und dass niemand mich ablehnte. Nicht sie hatten mich ausgeschlossen, sondern ich hatte mich ausgeschlossen!
Ich kapierte langsam, dass ich mich trauen musste, ich selbst zu sein, wenn ich mit anderen in Beziehung treten wollte.
Auch in anderen Bereichen machte ich die Erfahrung, dass ein Stück Selbstüberwindung nötig ist, um nicht auf der Stelle zu bleiben. Als in meinem Teeniekreis Mitarbeiter gesucht wurden, war mir natürlich sofort klar, dass das nichts für mich war. Aber der Teenieleiter sah das anders. Mit sanfter Gewalt "berief" er mich als Mitarbeiterin, was nicht weiter schwer war, da ich mich ja nicht traute, ihm zu widersprechen! Mit Zittern und Zagen bereitete ich meine erste Teeniestunde vor und entdeckte: So völlig unfähig war ich gar nicht! Die Stunde wurde kein überwältigender Erfolg, aber sie war ein Anfang. Und es ist ein jahrelanges Engagement in der Jugendarbeit und später in anderen Gemeindefeldern daraus entstanden!
Ich habe dabei gelernt, dass man manche Dinge einfach in Angriff nehmen muss, um herauszufinden, ob sie einem liegen oder nicht. Und manches, was zuerst "nicht mein Fall" war, ist schließlich zu einem guten Land geworden, das ich mit Gottes Hilfe für mein Leben eingenommen habe.
Hätte mir damals, als ich 13 oder 14 war, jemand gesagt: "Du wirst eines Tages vor 100 fremden Frauen stehen und einen Vortrag halten", hätte ich vermutlich geschrieen: "Im Leben nicht!" und wäre in Ohnmacht gefallen. Aber genau das habe ich getan, ich habe einen solchen Vortrag gehalten und ich und meine Zuhörerinnen haben ihn gut überlebt!
Ich bin immer noch schüchtern, aber ich kämpfe dagegen an und gehe weiter auf dem Weg, das gute Land einzunehmen, das Gott mir schenken will - die Entfaltung meiner Begabungen, die Überwindung meiner Grenzen, das Hineinwachsen in meine Berufung.
Wie Jabez bete ich: "Herr, erweitere mein Gebiet", und ich erlebe, wie das geschieht, überall dort, wo ich nicht dem ersten Fluchtimpuls folge, sondern das Wagnis eingehe, einen Kratzer im Lack oder einen Riss in der Fassade zu bekommen. Denn was ja oft hinter dem inneren "Ich kann das nicht" steht, ist die Angst, sich der Kritik auszusetzen, zu versagen, eine schlechte Leistung abzuliefern, die mich in den Augen der anderen herabwürdigt.
Diese Angst macht mein Leben eng, und das möchte ich nicht. In den Augen meines großen Gottes bin ich auch ohne Glanzleistung und selbst in meinem Scheitern noch wertvoll.
Der Weg des Volkes Israel zeigt, dass die Einnahme des verheißenen Landes immer auch mit Rückschlägen verbunden ist. Das ist einfach so. Aber wenn ich nur deswegen nicht aus Ägypten losziehe (um im Bild zu bleiben), weil der Weg anstrengend ist und mich etwas kosten wird, dann werde ich nie meinen Blick über das eingenommene Land werfen und Gott dafür loben können, dass er mich dorthin gebracht hat! Habe ich nicht den besten Begleiter, den es für diese Reise geben könnte? Mit meinem Gott kann ich die Wälle der Bequemlichkeit zerschlagen und über die Mauern der Angst springen. Ich wag’s!